Landesmusikgymnasium Rheinland-Pfalz

„Stolpersteine pflegen“

(Bericht von Linda Brüggemeyer, Jana Moritz und Claus Peter Beuttenmüller, 10a, 30.11.2017)

Stolpersteine Stern Willi BettyEr ist im Städtchen Montabaur ein geachteter Mitbürger, ein deutsch-national denkender ehemaliger Weltkriegssoldat, ein erfolgreicher Kaufmann und sorgt als Familienvater für Frau Betty und Sohn Alfred: Willi Stern.

Weil er aber auch Jude und zeitweise sogar Vorsteher der örtlichen Synagogen-Gemeinde ist, wird er seit der „Machtergreifung“ des Nationalsozialismus gesellschaftlich diskriminiert und wirtschaftlich ruiniert. Obwohl schon etliche jüdische Familien ausgewandert sind, obwohl ihr eigenes Haus in der Bahnhofstraße 24 nach der „Reichskristallnacht“ nicht mehr bewohnbar ist, obwohl sie an diesem für die deutsche Geschichte so beschämenden Tag gedemütigt und misshandelt werden, obwohl Willi Stern danach fünf schreckliche Wochen im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert ist, können er und seine Frau sich nicht dazu entschließen, Deutschland zu verlassen. Nur ihr einziges Kind, der 13-jährige Alfred, wird 1939 mit einem „Kindertransport“ in das sichere England evakuiert. Seit dem Abschied auf dem Bahnhof hat er seine Eltern nicht mehr gesehen, denn die werden im Juni 1942 „in den Osten“ deportiert. Seitdem fehlt von den Montabaurer Bürgern Willi und Betty Stern jede Spur, wahrscheinlich wurden sie im Konzentrationslager Sobibor ermordet.

Ähnlich erging es etwa 25 weiteren jüdischen Menschen aus Montabaur, die eine Deportation nicht überlebt haben. Bei den meisten weiß man nichts von den Umständen ihres Lebens und ihres Todes nach dem Abtransport aus Montabaur, keinen zuverlässigen Todesort, kein auch nur ungefähres Todesdatum und schon gar nichts von einem Grab. Unfassbar, dass sich solche menschlichen und gesellschaftlichen Tragödien vor noch nicht einmal 80 Jahren mitten unter uns abgespielt haben.

Stolpersteine Demnig MT 2012Wer heute aufmerksam durch die Straßen geht, kann aber wieder Zeichen dieser bedrückenden Lebensgeschichten erblicken: die „Stolpersteine“. Gunter Demnig, ein Künstler aus Berlin, rief Mitte der 1990er Jahre das Projekt „Stolpersteine“ ins Leben. Seitdem hat er in Deutschland aus rund 55.000 kleinen Messingplatten, die wie Pflastersteine in den Bürgersteigen verankert sind, das weltweit größte „dezentrale Mahnmal“ geschaffen. Sie informieren  – anders als die großen, zentralen Denkmäler für verschiedene Opfergruppen –  jeweils über Name, Geburtsdatum, Zeitpunkt der Deportation und Todesort jeweils nur einer einzigen Person und geben so den Opfern der Nationalsozialisten, die oftmals in den Konzentrationslagern zu Nummern degradiert und anonym getötet wurden, ihre Identität wieder zurück. Dazu gehört auch, dass der Standort dieser Steine jeweils dort gewählt wird, wo die Betroffenen zuletzt aus freiem Willen wohnten, und wo ihre bürgerliche Ausgrenzung und zuletzt ihr Verschwinden von den Nachbarn bemerkt worden sein musste.

Die Idee eines solchen Gedenkens ist umstritten, und auch in Montabaur wurde die Entscheidung zur Verlegung von Stolpersteinen vom Stadtrat 2006 abgelehnt. Erst das persönliche Engagement von Gerald Stern, des in England lebenden Sohnes von Alfred Stern, erbrachte beim zweiten Anlauf 2011 eine knappe Mehrheit für die Unterstützung dieser von privaten Spendern finanzierten Aktion gegen das kollektive Vergessen.

Mit der Verlegung stellt sich aber auch die Frage, wie man weiter mit diesen Gedenkplatten umgeht, die nach und nach verschmutzen. Stellen sie durch die Abnutzung und die Patina von Straßendreck selbst einen Teil der Geschichte dar und dürfen deshalb nicht verändert werden? Oder wahrt man auch die Würde des Menschen, an den erinnert wird, wenn man „seinen“ Stein schön sauber und damit auch gut sichtbar hält?

Wir sind der Meinung, dass diese Erinnerungsstücke weiterhin gut sichtbar für alle Passanten erhalten bleiben müssen. Dadurch wird der Sinn der Stolpersteine als lebendige Gedenkform deutlich, Passanten werden zum Nachdenken angeregt und können begreifen, dass die nationalsozialistischen Verbrechen über Jahre hinweg mitten in der Gesellschaft an Mitgliedern dieser Gesellschaft verübt wurden. Deshalb hat auch das Landesmusikgymnasium 2013 eine Patenschaft zur Pflege von einigen der Stolpersteine in Montabaur übernommen, und auch dieses Jahr hat sich eine kleine Gruppe aus der Klasse 10a zusammengetan, um diesen Stolpersteinen zu neuem Glanz zu verhelfen.

Stolperstein-Aktion 2017-11-06 (47)Für uns war es sehr emotional, jeweils an Ort und Stelle vom Schicksal und Leben der einzelnen Opfer zu hören und zu begreifen, dass hinter jedem Stein tatsächlich ein Menschenleben mit einer eigenen, tragischen Geschichte steckt: Zum Beispiel Alois Skatulla aus der Biergasse, der wegen seiner nazi-kritischen Sprüche denunziert und 1945 noch kurz vor dem Einrücken der Amerikaner von einem Standgericht der SS erschossen wurde; oder Albert und Billa Kahn sowie Adolf und Betty Heimann mit ihrer Tochter Ingeborg vom Vorderen Rebstock, die schon um die 60 Jahre alt waren und nach Zwangsumsiedlung und einem Jahr entwürdigender Zwangsarbeit im Zwischenlager Friedrichssegen bei Lahnstein in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor getötet wurden, nur weil sie Juden waren.

Symbolisch war für uns auch das Niederknien beim Putzen der Steine als ganz unbeabsichtigte Geste des Respekts gegenüber den getöteten Menschen. Die in neuem Glanz strahlenden Stolpersteine können uns an die unbegreiflichen Grausamkeiten der Vergangenheit erinnern und uns mahnen, sie niemals in Vergessenheit geraten lassen. Wir sollten es als unsere Aufgabe sehen, eine Verharmlosung der Geschichte zu verhindern.

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