Landesmusikgymnasium Rheinland-Pfalz

Stolpersteine für Albert und Billa Kahn – Eine Dokumentation gegen das Vergessen (Deu / Eng)

 

Deutsche DokumentationEnglish documentation     

 

(BEU, 05.01.2020) Ende Oktober 2019, ein regnerischer Tag in Montabaur. Wir müssen zuerst eine Mülltonne auf die Seite stellen, bevor wir uns neben zwei unscheinbar wirkenden Messingplatten auf den Boden knien können. Eine symbolische Geste, denn die Personen, deren Namen hier eingeprägt sind, leben schon lange nicht mehr: Albert und Billa Kahn[i] wurden nach jahrelanger Verfolgung durch die Nationalsozialisten in Treblinka ermordet. Wann und unter welchen Umständen ist nicht bekannt; für tot erklärt wurden sie, wie viele andere Juden mit ungeklärten Schicksalen auch, am 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation.

Wir sind zum alljährlichen Stolpersteine-Pflegen in den Vorderen Rebstock[ii] gekommen, den Ort, an dem die Familie Kahn zuletzt freiwillig gelebt hat. Nachdem der Stadtrat von Montabaur nach einem ersten abgelehnten Antrag im Jahr 2011 doch noch die Verlegung von Stolpersteinen genehmigt hatte, übernahmen die Heinrich-Roth-Realschule, die Anne-Frank-Realschule, das Mons-Tabor-Gymnasium und das Landesmusikgymnasium Patenschaften zur Pflege der Gedenkplatten und damit eine Verpflichtung zur aktiven Erinnerungsarbeit, der wir heute nachkommen.

Während die Paste einwirkt, mit der wir die Platten eingerieben haben, sitzen wir einige Meter entfernt auf einer Bank[iii] und schauen Unterlagen aus dem Stadtarchiv durch, die uns nähere Auskunft über das Leben der Familie Kahn in Montabaur geben.

Solche direkten Hinweise zu Menschen zu finden, die der Judenverfolgung zum Opfer gefallen sind, ist gar nicht so einfach, denn nur wenige Dokumente zur ehemaligen jüdischen Gemeinde von Montabaur sind der Vernichtung entgangen: Die Gemeinde-Akten selbst gingen wahrscheinlich bei der „Reichskristallnacht“ in Flammen auf, die Akten der NSDAP-Gliederungen wurden am Kriegsende – wie auch einiges private belastende Material – zur Verwischung von Spuren vernichtet. Im Stadtarchiv gibt es eine derartige Lücke der Überlieferung, dass der Verdacht einer planmäßigen Säuberung der Archivalien am und nach Kriegsende naheliegt. Und auch Informationen oder Dokumente von Zeitzeugen oder deren Nachfahren waren und sind nur sehr spärlich zu erhalten.

Und doch lässt sich wie aus verstreuten Puzzlestücken das Leben und der Tod der Personen rekonstruieren und dokumentieren, für deren Gedenken diese Stolpersteine verlegt sind, die nach unserem Putzen[iv] im neuen Glanz erstrahlen und die Passanten zum Nachdenken auffordern sollen:

 

Albert Kahn wird am 10. März 1874 in Montabaur als Sohn von David und Adelheid Kahn (geb. Wolf) in Montabaur geboren[v]. Er hat einen Zwillingsbruder, Louis, der aber schon ein halbes Jahr später stirbt. 1880 wird er an der Volksschule eingeschult[vi] und macht nach dem Schulabschluss eine kaufmännische Lehre.

1907 heiratet er Sybilla („Billa“) Wolff, geboren in Kobern an der Mosel am 26. März 1882 als Tochter von Isaak und Helene Wolff (geb. Mayer).

Mit ihren Kindern Erna (*1908), Ernst (*1910) und Werner (*1916) wohnen sie in ihrem eigenen Haus am Vorderen Rebstock 24, wie die Hausliste von 1917[vii] zeigt.

Die Familie Kahn gehört der Jüdischen Gemeinde von Montabaur an, die 1933 mit 72 Mitgliedern neben den wenigen Protestanten eine kleine Minderheit in katholischer Umgebung bildet. Albert Kahn ist in diesen Jahren sogar Vorstand der Gemeinde.

Uns fällt auf: beide sind 1926 im „Einwohnerbuch[viii] für den Westerwald“ als Geschäftsleute eingetragen, besitzen sogar einen von vielleicht gerade einmal 100 Telefonanschlüssen, die es zur damaligen Zeit in der Stadt gibt.

Die jüdischen Montabäurer sind in dieser kleinstädtischen Welt Nachbarn, Schulkameraden, Freunde. Sie sind Mitglied im Turn- und im Karnevalsverein, bei der Freiwilligen Feuerwehr, im Gesangverein und als angesehene Geschäftsleute auch im Stadtrat.

Wenige Jahre später jedoch hatten schon etliche jüdische Montabäurer die Konsequenzen aus den Diskriminierungen durch nationalsozialistische Gesetzgebung und nationalsozialistische Gesellschaft gezogen und waren ausgewandert. Aber erst die nicht für möglich gehaltenen Schreckensszenen der Reichskristallnacht im November 1938 und die anschließende unmenschliche Behandlung im Konzentrationslager Buchenwald hatten Albert Kahn die Illusion geraubt, dass die Nazi-Herrschaft bald wieder vorbei sein müsse, und dass er als ehemaliger Frontkämpfer des Weltkriegs mit seiner Familie vor den schlimmsten Auswüchsen der Judenverfolgung geschützt sei. Er bereute bitter, seinen Söhnen viel zu lange von der Auswanderung abgeraten zu haben.

Anfang 1939 müssen Albert und Billa Kahn wie alle von den Nationalsozialisten als Juden angesehenen Deutschen ihren Vornamen durch „Israel“[ix] für die Männer und „Sara“[x] für die Frauen ergänzen. Und wieder ein Jahr später müssen sie zu Alberts Bruder Leopold umziehen, der einige Häuser weiter wohnt. So erleben sie aus nächster Nähe, wie ihr eigenes Haus vermietet wird und die Miete ab Januar 1940 auf ein Sperrkonto[xi] fließt, auf das die Familie Kahn keinerlei Zugriff mehr hat. Letztlich muss das Haus verkauft werden, jedoch zu nur 45% seines Wertes.

Im selben Jahr noch werden die letzten acht verbliebenen Juden aus Montabaur, darunter Albert und Billa Kahn, zur Zwangsarbeit nach Friedrichssegen bei Lahnstein verpflichtet und damit zum Umzug[xii] gezwungen. Bei Friedrichssegen befindet sich das Ghetto und Zwangsarbeitslager der letzten Juden im Westerwald-Lahn-Bereich, in dem die Eheleute das nächste Jahr verbringen werden, bevor sie am 1. September 1942 nach Theresienstadt und einige Wochen später ins Vernichtungslager Treblinka deportiert werden. Die Transportliste[xiii] des Zuges ist der letzte Ort, auf dem der Name der Eheleute auftaucht.

Aus wenigen Dokumenten können wir die persönliche und gesellschaftliche Tragödie nachvollziehen, der Albert und Billa Kahn zum Opfer gefallen sind. Wir sind schockiert, dass ein Menschenleben so entwürdigt werden kann, wie es selbst im beschaulichen Montabaur 25 Menschen bis zum Tod erleben und erleiden mussten.

Und das Schicksal ihrer Kinder ist genau so bedrückend: Erna stirbt mit Mann und Tochter im Konzentrationslager, Werner und Ernst müssen aus Deutschland fliehen, ihre Eltern zurücklassen und sich eine ganz neue Existenz[xiv] aufbauen.

Damit es nie wieder so weit kommt rufen wir dazu auf, in Montabaur oder den vielen anderen Städten, in denen Stolpersteine[xv] verlegt sind, auf diese kleinen Mahnmale zu achten, hinter denen so viele furchtbare Schicksale und zerstörte Menschenleben stecken.

 

[i]     

Albert und Billa Kahn

Photo 1: Albert und Billa Kahn

[ii]    

Photo 2: Vorderer Rebstock

Photo 2: Vorderer Rebstock

[iii]   

Photo 3: Arbeitsgruppe (L. Brüggemeyer, S.-M. Kemnitzer, R. Wiesend, C.P. Beuttenmüller)

Photo 3: Arbeitsgruppe (L. Brüggemeyer, S.-M. Kemnitzer, R. Wiesend, C.P. Beuttenmüller)

[iv]   

Photo 4: Putzen

Photo 4: Putzen

 
 

[v]    

Photo 5: Geburtsanzeige

Photo 5: Geburtsanzeige

 

[vi]   

Photo 6: Einschulungsvermerk

Photo 6: Einschulungsvermerk

 

[vii]   

Photo 7: Hausliste

Photo 7: Hausliste

 

[viii]  

Photo 8: Einwohnerbuch

Photo 8: Einwohnerbuch

 

[ix]   

Photo 9: Namenszusatz Israel

Photo 9: Namenszusatz Israel

 

[x]    

Photo 10: Namenszusatz Sara

Photo 10: Namenszusatz Sara

 

[xi]   

Photo 11: Sperrkonto

Photo 11: Sperrkonto

 

[xii]   

Photo 12: Abmeldekarten für Albert und Billa Kahn

Photo 12: Abmeldekarten für Albert und Billa Kahn

 

[xiii]  

Photo 13: Transportliste

Photo 13: Transportliste

 

[xiv]  

Photo 14: Die Kinder von Albert und Billa Kahn

Photo 14: Die Kinder von Albert und Billa Kahn

 

[xv]   

Photo 15: Die Stolpersteine für Albert und Billa Kahn

Photo 15: Die Stolpersteine für Albert und Billa Kahn

 

 

 

 

Deutsche DokumentationEnglish documentation     

 

The “Stolpersteine” (Tripping Stones) for Albert and Billa Kahn  –  a Documentation

Late October 2019, a rainy day in Montabaur. We need to move a garbage can before we can get to two nondescript brass plates. Kneeling down to them to maintain them is a symbol, the people whose names are engraved there have already been dead for a long time. After years of persecution, Albert and Billa Kahn[i] were murdered in Treblinka. Neither their exact date of death is known nor the circumstances, under which they died. As many other Jews with unknown fates, they were declared dead on May 8th 1945, the day of German unconditional surrender.

For our yearly “tripping stone care”, we went to the “Vorderer Rebstock”[ii], the place where the family lived voluntarily for the last time. After the first rejected request, the council finally agreed to the laying of the “Stolpersteine” (tripping stones) in 2011. Since then, the Mons-Tabor Highschool, Heinrich-Roth-Realschule, Anne-Frank-Realschule and the Landesmusikgymnasium have adopted the stones and therefore have actively kept the memories alive, just like we do today by looking after them. 

After treating the brasses with a paste and waiting for it to act upon it, we are sitting on a bench[iii] and looking through some documents that were found in the municipal archive that show us more insights into the family’s life. Finding documents about Jewish people being murdered by the Nazis is not easy at all as only some could be rescued from destruction. The files were probably burned in the Night of Broken Glass, the ones with further information about the NSDAP were destroyed, such as some incriminated material, for blurring the traces. Because of that few documents of that period of time about the Jewish inhabitants of Montabaur, a systematic purge of archival materials at the end of World War II. seems very likely. Furthermore, only some information from and about contemporary witnesses are sustained.

But still, the lives and the deaths of several people can be reconstructed from scattered remaining files and documentations. For their memory, the people walking by should recognize the tripping stones again after the care[iv] they received from us:

Albert Kahn is born[v] on March 10th 1874 in Montabaur as the son of David and Adelheid Kahn (née Wolf). His twin brother Louis dies six months after their birth. From 1880 on, he attends elementary school[vi] and does a commercial apprenticeship after his graduation. He marries Sybilla (“Billa”) Wolff in 1907 who is born in Kobern near the Mosel on March 26th 1882 as a daughter of Isaak and Helene Wolff (née Mayer).

As a list of the residents[vii] of their house from 1917 shows, they live in “Vorderer Rebstock 24” with their children Erna (*1908), Ernst (*1910) and Werner (*1916).

The family is part of the Jewish community in Montabaur that has 72 participants in 1933 and therefore is a minority in the Catholic environment. Albert Kahn is even the chairman of the community for some years.

We recognize that husband and wife are both mentioned in the resident’s book[viii] of the Westerwald region as business people and even own one of may be 100 telephone connections that existed back in the days in Montabaur.

The Jewish community in the town takes part in gymnastic and carnival clubs and choirs, they participate at the firefighters and are friends and neighbours, as business people they are even part of the town council.

But some years later, due to years of discrimination by the national socialistic society and its laws, many Jews drew the obvious conclusion and emigrated. But not before the frightening scenario in the Night of Broken Glass in November 1938 and the following cruel treatment inside the concentration camp Buchenwald, Albert Kahn believed in such a long reign of the Nazis in Germany and also was convinced that he, as a soldier of World War I., could escape from the systematic persecution of Jews. He regretted deeply to not have advised his sons to leave the country earlier.

As from Germans so labelled Jews, Albert and Billa Kahn are forced to add “Israel”[ix] or “Sara”[x], to their first names in early 1939. Another year later they are moving into Albert’s brother Leopold’s house, who is living just around the corner. Their own house is being rented, but the rent is payed onto a blocked account[xi], so the family does not have any access to the money anymore. That is why the house needs to be sold at last, but only for 45% of its actual worth.

The last remaining Jews of Montabaur are pledged to do compulsory labour in Friedrichssegen near Lahnstein in the same year and therefore are forced to move[xii] another time. The couple is going to pass the next years in this last ghetto in the Westerwald-Lahn region before they are deported to Theresienstadt on September 1st 1942. Some weeks later they are brought into the extermination camp of Treblinka. The names of Albert and his wife Billa Kahn appear last on the lists of these transports[xiii] „XII/2 train Da 509“ with the numbers 1044/1045 and transport „Bs“ with the numbers 1073/1074.

Albert and Billa Kahn were victims of a personal and social tragedy, we were able to track with only few documents and files. We are beyond shock how debased a human life can become, even in the small town of Montabaur, where 25 people were deported and murdered by the Nazis.

Even their children’s fate is oppressive: Erna dies with her husband and daughter in a concentration camp, Werner and Ernst have to flee the country, leave their family behind and build up a new life[xiv].

We are proclaiming to pay attention to the tripping stones[xv], because we do not want this to happen again. Not only in Montabaur but in several cities as behind every little brass plate is an own frightening fate and destroyed life.

 

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Acquired from a work group of the „Landesmusikgymnasium Rheinland-Pfalz“, consisting of L. Brüggemeyer (also translater), S.-M. Kemnitzer, R. Wiesend and C.P. Beuttenmüller.

(Und warum in Englisch? Weil wir die Dokumentation im Austausch mit den Enkelinnen von Albert und Billa Kahn in Australien erarbeitet haben.)