Landesmusikgymnasium Rheinland-Pfalz

Auschwitz oder „Eine Reise in die Vergangenheit unserer Zukunft“

Besuch von Auschwitz 2016(FRI, 12.07.2016) 33 Schüler zweier Schulen brachen kurz vor Ende des Schuljahres auf, um sich einer Thematik zu stellen, die einerseits Geschichte zu sein scheint, sich andererseits immer wieder als brennend aktuell erweist: Auschwitz und die Abgründe menschlicher Psyche.

Die beiden Schülergruppen des Sophie-Hedwig-Gymnasiums Diez und des Landesmusikgymnasiums Montabaur hatten sich je freiwillig für die Studien- und Projektfahrt nach Polen entschieden und waren dann gemeinsam, nach unterschiedlichen Vorbereitungsphasen, am 1. Juli zunächst nach Krakau aufgebrochen.

Inmitten dieser sympathischen Weltstadt näherte man sich behutsam dem Kernthema der Fahrt, der Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Nach einer großen Stadtführung durch das geschichtliche Krakau lieferte der Besuch des jüdischen Jazzfestivals in Kazimiercz, dem jüdischen Viertel von Krakau, erste Berührungspunkte mit den Orten, an denen vor dem 2. Weltkrieg noch 68000 Juden gelebt, gearbeitet und gefeiert hatten. In Krakau leben dort heute nur noch ca. 600 Juden.

Das Jazzfestival schafft eine lebendige Verbindung von damals und heute. Umgeben von Altem und Neuem pulsiert auf dem Sheroca-Platz neben alter und neuer Synagoge, flankiert von neu belebten Restaurants und Kneipen, das junge Leben von Krakau auf den Plätzen seiner Geschichte.

Ein weiterer Annäherungspunkt für die Schülergruppen war dann der Besuch der Fabrik von Oskar Schindler, in der heute ein eindrucksvolles, multimedial aufbereitetes Museum eingerichtet ist.
Hier taucht man in die Atmosphäre jener Zeit ein, wenn man Räume durchläuft, die einer Straßenbahn oder einer Bahnhofswartehalle nachempfunden sind, während rundum die Geräusche ertönen, die dort zu hören waren. In Ton und Bild wird nahegebracht und sprichwörtlich greifbar gemacht, was damals geschah und vielleicht wieder geschehen könnte, wenn Menschen nicht aus der Geschichte lernen.

Im Anschluss wanderte man dann durch die nebenan liegenden Bezirke des Krakauer Ghettos, die man gerade zuvor noch in Originaldokumenten betrachtet hatte. Reste der Mauern, die das Ghetto umgeben hatten, stachen ins Auge, Plätze, auf denen Menschen zusammengetrieben und hingerichtet worden waren, starren den Besucher an. 68 Stühle als Platzhalter und Symbol für 68000 Menschen, die hier der Willkür ausgesetzt und ihres Platzes in der Gesellschaft beraubt worden waren.

Scheinbar unverfänglich und doch fast noch beeindruckender der Ort des Arbeitslagers in Plaszow, einem Vorort der Stadt, über den im Laufe der Zeit „Gras gewachsen“ zu sein scheint. Auf den ersten Blick eine grüne Parkanlage am Stadtrand, die zu Spaziergang und Picknick einlädt, aber dann doch, bei näherem Hinschauen/Hinfühlen, Ort des Grauens.

Nur wenige Mahnmale geben Zeugnis davon, wie viele Menschen hier unter qualvollen Bedingungen arbeiten und, man mag es kaum so ausdrücken, „leben“ mussten. Viele kamen hier zu Tode. Man wandert über die Gräber von Tausenden von Menschen.

Sprichwörtlich „mit Füßen getreten“ die Denkmäler jüdischer Totenkultur, die zum Bau von Straßen und Mauern verwendet worden waren. Das alles in einer Stadt, die heute als das „Florenz des Ostens“ bezeichnet wird und vor Lebendigkeit strotzt. Überall spürt man die Vitalität und Lebensfreude. Die Menschen sind freundlich und zugewandt. Die Eindrücke vermischen sich und man ist geneigt, das Erlebte als „bösen Traum“ zu verdrängen.

Der nächste Schritt war dann die weitere Annäherung an das unvorstellbare Zentrum des Grauens.
Auschwitz oder Oswiecim, wie der Ort heute genannt wird, rückt in den Blick. Zunächst durch eine Stadtbesichtigung auf eigene Faust, in der Spuren des Vergangenen gesucht und Eindrücke mitgenommen wurden, die dann später in der Gruppe besprochen werden sollen.

Erstaunen darüber, wie wenig von der „schweren“ Geschichte des Ortes zu finden ist, eher die Andenken an die „gute, alte Zeit“. Das Grauen scheint ausgelagert, liegt auf der anderen Seite des Flusses. Im Ort selbst kann man auf einem idyllischen Marktplatz verweilen, Eis essen, Kaffee trinken, eben „ganz normal leben“.

In der direkt neben dem Stammlager Auschwitz gelegenen „Kath. Bildungsstätte für Dialog und Gebet“ bezogen die Schüler mit ihren Lehrern Quartier. Von hier aus rückte man dem unfassbaren Geschehen täglich etwas näher.

In Hameze, einem Nachbarort eröffnet eine Ausstellung im Keller einer Franziskanerkirche einen tiefen Einblick in die seelischen Abgründe aufgrund des Lagerlebens. Marian Kolodziej, Häftling Nr. 432, der mit dem ersten Transport nach Auschwitz gekommen war, hatte fast ein Leben lang nach seiner Rettung aus Auschwitz geschwiegen, bis er dann in hohem Alter die Verpflichtung verspürte, all dem einen Ausdruck zu geben, was aus seinem Inneren zu schreien schien. Eine Flut von Bildern entstand. In der Ausstellung starren einen „gefühlte Zehntausende Totenköpfe und Gesichter an“ (Zitat einer Schülerin) die alle etwas zu sagen, dem Besucher etwas mitzugeben scheinen. Das Ziel ist nicht die Verdammung, sondern das rückhaltlose Darstellen der Entmenschlichung, aber auch einer Haltung oder Kraft, die selbst dem noch widerstehen kann. Pater Maximilian Kolbe taucht auf, der es vermocht hatte, dem menschenverachtenden System etwas entgegenzusetzen, der, anstatt sich selbst zu retten, sein Leben für das eines anderen (Familienvaters) einsetzte, sich für einen anderen ermorden ließ. Dieser Andere überlebte und konnte Zeugnis geben.

Die Ausstellung entlässt den Besucher nicht mit Vorwürfen, sondern eher mit dem Appell, aus dem Grauen zu lernen und selbst an einer besseren Welt mitzuarbeiten. Der Künstler selbst deutet in seinen letzten Werken darauf hin, dass er „seinen Frieden“ mit all dem gemacht hat, so unfassbar das auch klingen mag. Der Betrachter wird über die Schwelle des Grauens hinweg in eine Welt entlassen, die er zukünftig zu gestalten hat.

Einen überraschend anderen Akzent setzte dann am Nachmittag des gleichen Tages ein 90-jähriger Zeitzeuge, der eineinhalb Jahre in Auschwitz verbracht hatte. Ein polnischer Widerstandskämpfer, der beinahe neutral und für alle Zuhörer überraschend emotionslos das Lagerleben schilderte; offensichtlich aus der Perspektive eines eher weniger stark „Getroffenen“.
Auch aus seinen Schilderungen war jedoch herauszuhören, dass es Menschen gab, denen im Lager deutlich heftiger mitgespielt wurde. Irgendwie „objektiv“ gab er Eindrücke in die zeitliche und strukturelle Lagerorganisation. Der Kontrast zur Veranstaltung am Vormittag hätte kaum größer sein können.

Durch Workshoparbeit vertieften sich dann die Schüler weiter in besondere Themenschwerpunkte anhand ausgelegter Materialien. So wurden Themen wie „Frauen im Lager“, „Leben mit dem Grauen – Wohnen im Schatten des Konzentrationslagers“, „Lageralltag“, „Medizinische Experimente“ oder auch „Transporte im Viehwaggon“ bearbeitet und dann die Ergebnisse den Mitschülern vorgetragen.

Die ganze Wucht dieser Thematik traf die Gruppe dann beim Besuch des Stammlagers Auschwitz I und Birkenau (Auschwitz II). Auf dem Boden der KZ’s zu stehen, die kasernenartigen Häuser zu begehen, in denen viele Tausend Menschen gelitten hatten und auf grausamste Art gestorben waren, wurde spätestens dann greifbar, ja nahezu körperlich erlebbar, als man im Stammlager in einen abgedunkelten, riesigen Raum geführt wurde, in dem meterhoch Menschenhaar aufgetürmt worden war, dass man den Frauen unmittelbar vor dem Gang in die Gaskammer abgeschnitten hatte. Das letzte Lebenszeichen tausender, geschundener Menschen.

Besuch von Auschwitz 2016Ein zweiter Teil der Ausstellung im Lager war dann darauf hin angelegt, die Menschen zu zeigen, die hier ums Leben gekommen sind, nur weil sie einer bestimmten Religion angehörten, die Juden. Männer, Frauen und Kinder. Weit über eine Million allein hier in Auschwitz. In einem eigenen Block wurde ihrer besonders gedacht. Über Filminstallationen wurde bewusst vor Augen geführt, dass es sich um Menschen gehandelt hatte, die ein privates und öffentliches Leben geführt hatten, wie jeder von uns, aus dem sie unvermittelt aufgrund einer menschenverachtenden Doktrin herausgerissen worden waren. Zahlen machen immer wieder das Ausmaß des Grauens bewusst, Bilder belegen das unfassbar grausame Geschehen, das selbst vor Kindern nicht Halt gemacht hat. Die bildhaften Zeugnisse aus Kinderhand brauchen nach all dem vorher Gesehenen und Gehörten keine weiteren Kommentare mehr. In Kopie der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem werden dem Besucher Listen all der jüdischen Menschen vorgestellt, die während der Nazi-Diktatur ums Leben gekommen sind. 6 Millionen insgesamt. Die unfassbare Menge wird deutlich.

Die Schüler fanden hier Namen von Menschen aus ihren eigenen Städten und Dörfern.

Immer wieder brauchte man Pausen, um das Gesehene zu verdauen. Keiner sprach mehr. Behutsam führte unsere Begleiterin Schritt für Schritt durch die Ausstellung, gab immer wieder Zeit, stellte Fragen, regte zum Nachdenken und zum gegenseitigen Austausch an.

Schließlich ging die Gruppe den Weg, den die Menschen hatten gehen müssen, die hier in den Tod gegangen waren, sei es im Gefängnis und seinem Vorhof oder in der Gaskammer am Rand des Stammlagers.

Von den Schülern gefragt, wie sie denn das alles täglich ertragen könne, antwortete die Führerin, eine Frau um die Siebzig, dass sie das als  i h r e  Aufgabe betrachte, davon zu erzählen, Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, daraus zu lernen, auch wenn das immer wieder bedrückend und schwer sei.

Ein Zitat in der Ausstellung hatte sinngemäß formuliert, dass man Gefahr laufe, die Geschichte zu wiederholen, wenn man sie nicht kenne und aus ihr lerne.
Auschwitz II, Birkenau, war dann am letzten Tag Ziel der Schülergruppe.

Keine neuen Informationen, wie unsere Führerin betonte, aber ein Gespür für die Dimensionen und eine Ahnung von der perfiden Struktur dieses größten Vernichtungslagers. Geradezu körperlich wurden einem bei der nicht enden wollenden Begehung der Lagerfläche die unvorstellbaren Ausmaße des grauenhaften Geschehens bewusst. Fassungslos stand die Gruppe immer wieder neu vor Trümmern der vielen großen Gaskammern und Krematorien, in denen täglich mehrere Tausend Menschen umgebracht worden waren.

Besuch von Auschwitz 2016Am Ende der nahezu vierstündigen Führung senkte sich fast so etwas wie Erleichterung über die Gruppe und man war dankbar, das Gelände endlich verlassen zu können, auf dem so schreckliche Dinge geschehen waren.

Unsere Führerin entließ uns mit den besten Wünschen für unsere Zukunft, die wir selbst aufgrund des Gesehenen und Erlebten bewusst gestalten sollten. Nicht vergessen und lernen!

Zurück in der Unterkunft wurde dann in einem abschließenden Gesprächskreis noch einmal Gelegenheit gegeben, das Erlebte zu reflektieren. Es wurde jedoch klar, dass viele noch nicht in der Lage waren, darüber zu reden. Es würde noch Tage und Wochen, ja Monate und Jahre nachwirken, was man in dieser kurzen Zeit alles gesehen und erlebt hatte.

Einhellig aber war die Aussage aller, dass man dankbar sei, das alles erlebt haben zu dürfen.

In einer Schlussmeditation war jeder der Teilnehmer und Teilnehmerinnen eingeladen, einen Stein an sich zu nehmen, der sinnbildlich für das stehen möge, was man von hier aus mitnehme. Mit dem Schalom chaverim, dem jüdischen Friedenswunsch auf den Lippen trat man dann die Heimreise an. Allen war bewusst, dass sie ein Stück weit verändert zurückkehren würden.

Ein besonderer Dank gilt all den Institutionen, die die Durchführung dieser Studienfahrt finanziell unterstützt haben, allen voran die Fördervereine der beiden beteiligten Schulen und die Bethe-Stiftung, die in Kooperation mit dem Land Rheinland-Pfalz für die Förderung der Gedenkstättenfahrten nach Oswiecim (Auschwitz) zuständig ist.

Weitere Fördergelder kamen vom Nassauischen Zentralstudienfonds und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.